Lesefrüchte

Kasimir Edschmid (1890-1966)

Über den dichterischen Expressionismus

So wird der ganze Raum des expressionistischen Künstlers Vision. Er sieht nicht, er schaut. Er schildert nicht, er erlebt. Er gibt nicht wieder, er gestaltet. Er nimmt nicht, er sucht. Nun gibt es nicht mehr die Kette der Tatsachen: Häuser, Krankheit, Huren, Geschrei und Hunger. Nun gibt es ihre Vision.

Die Tatsachen haben Bedeutung nur so weit, als, durch sie hindurchgreifend, die Hand des Künstlers nach dem faßt, was hinter ihnen steht.

Er sieht das Menschliche in den Huren, das Göttliche in den Fabriken. Er wirkt die einzelne Erscheinung in das Große ein, das die Welt ausmacht. […]

Eine Hure ist nicht mehr ein Gegenstand, behängt und bemalt mit den Dekorationen ihres Handwerks. Sie wird ohne Parfüme, ohne Farben, ohne Tasche, ohne wiegende Schenkel erscheinen. Aber ihr eigentliches Wesen muß aus ihr herauskommen, daß in der Einfachheit der Form doch alles gesprengt wird von den Lastern, der Liebe, der Gemeinheit und der Tragödie, die ihr Herz und ihr Handwerk ausmachen . Denn die Wirklichkeit ihres menschlichen Daseins ist ohne Belang. Ihr Hut, ihr Gang, ihre Lippe sind Surrogate. Ihr eigentliches Wesen ist damit nicht erschöpft.
Die Welt ist da. Es wäre sinnlos, sie zu wiederholen.
Sie ist im letzten Zucken, im eigentlichen Kern aufzusuchen und neu zu schaffen, das ist die größte Aufgabe der Kunst.

Edvard Munch (1863-1944)

Ich ging spazieren mit zwei Freunden. Da sank die Sonne. Auf einmal ward der Himmel rot wie Blut, und ich fühlte einen Hauch von Wehmut. Ich stand still am Geländer. Über dem blau – schwarzen Fjord und über der Stadt lag der Himmel wie Blut und Feuerzungen. Meine Freunde gingen weiter, und ich stand allein vor Angst, bebend vor Angst. Mir war, als ginge ein mächtiger, unendlicher Schrei durch die Natur.

Theodor Däubler (1876-1934)

Expressionismus

Der Volksmund sagt: wenn einer gehängt wird, so erlebt er im letzten Augenblick sein ganzes Leben nochmals. Das kann nur Expressionismus sein!

Schnelligkeit, Simultanität, höchste Anspannung um die Ineinandergehörigkeiten des Geschauten sind Vorbedingung für den Stil. Er selbst ist Ausdruck der Idee.
Eine Vision will sich in letzter Knappheit im Bezirk verstiegener Vereinfachung kundgeben: das ist Expressionismus in jedem Stil.
Farbe ohne Bezeichnung, Zeichnung und kein Erklären, im Rhythmus festgesetztes Hauptwort ohne Attribut: wir erobern unsern Expressionismus!
Alles Erlebte gipfelt in einem Geistigen. Jedes Geschehn wird sein Typisches. Da die Notwendigkeit, sich zusammenfassend zu äußern, in vielen Köpfen entscheidend einsetzt, vehement hervorzuckt, bekommen wir einen Stil. Er wird allgemein verbindend sein und die Äußerung des Persönlichsten fördern und erleichtern. Unsre Not, so und nicht anders zu tun, ist keineswegs im Sinn einer fatalistischen Notwendigkeit gedacht, sondern im Geiste von: Eines tut not! Folglich Freiheitsbewußtsein. Künstlerisches Behaupten. Die Dinge, die wir schöpfen, sollen ichbegabt sein: nicht für unsern Standpunkt perspektivisch entfaltet, sondern aus sich selbst hervorkristallisiert. Der Mittelpunkt der Welt ist in jedem Ich. […]

Th. Däubler: Dichtungen und Schriften. 1956, S. 853 f.

Aus:
Fritz Bremer
In allen Lüften hallt es wie Geschrei
Jakob van Hoddis – Fragmente einer Biographie
Bonn 1997

Kurzinformation über das Buch:

Die Frage der Psychiatrisierung von Patienten hat auch heute noch nichts von ihrer Aktualität verloren. Das Schicksal des jüdischen Dichters Jakob van Hoddis zeigt, wie ein Mensch zum Objekt der Akten und Anstalten wird. Der Autor des vielleicht berühmtesten expressionistischen Gedichtes »Weltende« geriet kurz vor dem 1. Weltkrieg in die Mühlen der Psychiatrie und wurde 1942 aus einer jüdischen Heil- und Pflegeanstalt deportiert. Übriggeblieben sind ein paar Gedichte und Briefe, einige Krankenakten und die Erinnerungen seiner Freunde und Verwandten, die nur ein unscharfes und unvollständiges Bild von der Persönlichkeit des van Hoddis zeichnen. Fritz Bremer läßt den Menschen van Hoddis wieder lebendig werden. Erst in der Erzählung wird die Person des Hoddis sichtbar und spürbar, in seiner Genialität wie in seinen Schwächen.

In dem Spannungsfeld aus Fakten und Fiktion steht die Literaturszene und die psychiatrische Landschaft zu Beginn unsres Jahrhunderts wieder auf. Fulminanter Höhepunkt ist eine Zeitreise des Patienten Hoddis in das Triest der 70er Jahre. Hier, weit entfernt von dem realen Vernichtungsprozeß, an einem Geburtsort der Psychiatriereform, deutet sich die Alternative einer vorurteilsfreien Begegnung mit dem Wahnsinn an.

 

Hoddis hatte sich ferngehalten von der Kirche, von den Gästen und allem Tumult der Konfirmation. Am Morgen des großen Tages hatte er auf der Bank vorm Schulhaus sitzend den Sieglings in ihren Feiertagskleidern auf dem Weg zur Kirche nachgeschaut. Er hatte hell heraus gelacht, so daß Frau Siegling stehengeblieben war, sich mit einem sehr strengen Blick zu ihm umgeschaut hatte. Und gerade da war sie ihm besonders steif, merkwürdig verkleidet und so lustig und verloren erschienen, daß er noch heftiger hatte lachen müssen und dann plötzlich von großer Traurigkeit angerührt worden war. Er war lieber nicht geblieben und für den Rest des Tages einfach verschwunden. Die Tochter fürchtete sich eigentlich vor dem jungen Herrn Davidsohn. Sie empfand in seiner Nähe so eine Anspannung. Das machte ihr Angst. Er stand auch im Sommer am Ofen, rieb sich die Hände über der Ofenplatte, als würde er frieren. Und dann lachte er plötzlich, ohne daß sie je gewußt hätte warum. Seine Gesichtszüge waren ohne bestimmtes Alter. Fragte man ihn, wie alt er sei, gab er immer nur an »Achtundzwanzig«. Das war der Tochter ganz fremd. Und noch fremder war ihr dieser oft von ihm wiederholte Satz von den Rosen am Wannsee, und daß er nicht wüßte, wem er sie schenken sollte. War das ein Irrsinn? Und was war denn ein Irrer? Der war doch das Gegenbild zum Menschen? So jedenfalls dachte sie bei sich und fragte sich auch, wie das zusammenpassen könnte mit dem im Grunde wohl freundlichen Wesen des jungen Herrn Davidsohn.
Sie mochte ihn leiden. Um ihn war so etwas Anrührendes. Er erschien ihr ganz schutzlos. Man erkannte ihn sofort; sie meinte, sein Inneres zu spüren und auch zu seiner Verschlossenheit eine Verbindung zu haben. Sie wußte, daß es von ihm gedruckte Gedichte gab, daß er unter dem Namen Jakob van Hoddis als Schriftsteller bekannt geworden war. In seiner Mütze hatte sie die Initialen J.v.H. gesehen. Das beeindruckte sie sehr. Sie las gerne Romane, auch Gedichte und hatte eine hohe Meinung von der Literatur. Vor ihren Eltern hielt sie das, so gut es ging, geheim. Insbesondere die Mutter äußerte sich, sobald sie etwas bemerkte von dieser Neigung der Tochter, darüber sehr besorgt und hielt sie statt dessen nachdrücklich zur Hausarbeit an.
Am Tag nach der Konfirmation saß Hoddis gegen Mittag auf dem Hauklotz unter der Birke beim Schulgarten. Ermutigt durch den gerade erfahrenen Schritt in das Leben der Erwachsenen, angetrieben auch von Neugierde wagte die Tochter, den Pflegling allein anzusprechen. Sie trat auf ihn zu und fragte scheu: „Herr Davidsohn, darf ich Sie bitten, da ich doch gerade die Konfirmation gefeiert habe und da Sie ein Schriftsteller sind, – darf ich Ihnen mein Poesiealbum geben und Sie bitten, mir da etwas einzutragen?“
Hoddis schaute aufmerksam, erstaunt und für längere Zeit auf das Mädchen. Er lachte. Er lachte sie freundlich an. „Sie sind sehr erwachsen jetzt und höflich“, sagte er und nahm das Poesiealbum, das sie ihm reichte, in seine Hand. „Darf ich das behalten, für heute vielleicht?“ Sie nickte froh.
Am Abend dieses Tages saß Hoddis lange in seinem Zimmer über dem aufgeschlagenen Buch. Häufig stand er auf, um den Schrank zu öffnen und in seinen Kisten zu räumen und zu suchen. Schließlich zog er aus einer Kiste einen Spielzeugbaukasten hervor. Den legte er auf den Tisch neben das Album, setzte sich und schrieb langsam und sicher:

»Wirf deinen Anker
nicht nach der Tiefe
des Erdenschlammes
sondern nach der Höhe
des Himmelsblaues
und dein Schifflein
wird glücklich landen
im Sturm.«

Er betrachtete die Verse und lächelte sie an. Ja, so sollte es sein für dieses freundliche Mädchen.
Am folgenden Morgen saß Hoddis mit dem Album und dem Spielzeugbaukasten vor dem Bauch auf der Bank und wartete. Als Elisabeth Siegling vor das Schulhaus trat, ging er auf sie zu. Mit einer knappen Verbeugung überreichte er ihr die beiden Geschenke. Sie bedankte sich und kehrte sofort zurück ins Haus, um die Eintragung zu lesen. Sie saß am Küchentisch und las die Zeilen wieder und wieder. Das war ihr ein merkwürdiges Gedicht. Ihre Eltern traten hinzu und schauten ihr über die Schultern auf die Verse im Buch. Der Vater schüttelte verwundert den Kopf, sagte vorerst nichts dazu. Die Mutter aber ermahnte die Tochter sogleich, sich mit solchen Dingen doch ja nicht zu sehr zu befassen, das verwirre den Geist und Verständiges komme dabei nicht heraus.