Hellmuth Karasek: Der Knorpel im Hals

[…] Wer die »Blechtrommel« kennt, wird an einigen Stellen der Novelle einem Knirps wiederbegegnen, der sich als Hauptheld bereits durch den Roman trommelte. Und nicht nur das. Wie im Roman liefert auch diesmal eine anatomische Abnormität das Thema: Der Held der Novelle hat einen übergroßen Adamsapfel, auch »Maus« genannt, was ihren Titel erklärt. Es ist der gleiche Trick, dessen sich Grass in beiden Werken bedient, um seine Wirklichkeit aus einer ganz besonderen Perspektive angehen zu können: Infantilität (im Roman) und Abnormität (in der Novelle) ermöglichen es ihm, die Alltagsvorstellungen in seinen Werken außer Kraft zu setzen. Grass betrachtet »sein« Danzig auch diesmal mit den Augen von Kindern, die für ihre Taten noch nicht die Schubladen von »gut« und »verwerflich« bereithalten. Er schafft sich eine Erzählwelt, in der kein moralischer Imperativ Geltung hat. Nicht dass er sich etwa vornähme, gegen die Sitte und Moral wie gegen Barrikaden mit seiner Erzählwut anzukämpfen. Die Sittengesetze kommen bei ihm ganz einfach nicht vor, und wenn den erwachsenen Personen seiner Erzählung Fichte- oder Walter-Flex-Zitate von den Lippen rieseln, so wirken sie, ohne dass Grass ausdrücklich gegen sie zu Felde ziehen müsste, komisch. Sie scheppern wie hohles Pathos.

So ist – wenigstens scheinbar – nicht der Krieg wichtig, in dem sich »Katz und Maus« abspielt, obwohl es um einen »Ritterkreuzträger« geht. Auch nicht, dass des fiktiven Erzählers Mutter, während ihr Mann Feldpostbriefe sendet, anderen Männern Gutes angedeihen lässt. Auch nicht, dass Hochwürden an seinem erzählenden Ministranten einmal ein mehr als menschliches Interesse zu zeigen beginnt. Das alles wird gleichsam am Rande notiert, sine ira et studio. Der Erzähler wischt es rasch beiseite, weil es ihn von seinem Thema ablenkt, das er belauert und umschleicht, wie die Katze zu Beginn der Novelle besagte Maus.

Denn   die   Novelle   ist,  vereinfacht  ausgedrückt,   die Geschichte eines Adamsapfels. Die Geschichte also einer »unerhörten Begebenheit«, wie Goethe und der Klappentext es für die Novelle fordern. Auch die »Falkentheorie« lässt sich, wenn man so will, auf »Katz und Maus« anwenden. In der »Maus« findet man unschwer den »Falken« wieder, den  Heyse am »Dekameron« als Charakteristikum für die Novelle abgelesen hat.

Doch handelt es sich keineswegs um eine psychologische Erzählung von  der Kompensation eines körperlichen Defekts. Was die Novelle antreibt, ist nicht ein sorgfältig aufgedeckter psychischer Motor. Es sind vielmehr die Bilder, die aus sich den Fortgang der Handlung erzeugen: »Ich hatte Wut im Bauch, und die Wut bekam Junge.« So wie der Wut geht es den meisten Metaphern. Die Turnhalle wird zur Kirche und die Kirche zur Turnhalle. Aus den kindlichen Tauchspielen das Untertauchen einer Existenz. So kommen auch die Schocks zustande. Nicht weil Grass schockieren will, sondern weil seine Metaphern wütend um sich greifen und nach neuer Nahrung suchen: nach der Jungfrau Maria und frommen Litaneien, hinter denen die Maus ihre Zuflucht sucht, und nach den Knabenlastern, die erzählt werden, weil der übergroße Knorpel im Hals nach einem körperlichen Gegengewicht verlangt. Das Ergebnis ist, dass Verhaltensweisen und Dinge, die man üblicherweise gewohnt ist, so furchtbar wichtig zu nehmen, ganz beiläufig ironisiert und bagatellisiert werden. Der große Krieg stolpert über die im Wasser baumelnden Beine von Tertianern. Die Welt der Erwachsenen löst sich in kaschubischem Dialekt und lächerlichem Pathos auf. Dass man es aber, so merkwürdig es sich ausnehmen mag, diesmal gelassener liest, liegt an der vorausgegebenen »Blechtrommel«. Denn was ist schon ein zu groß geratener Knorpel im Hals gegen den Entschluss, als Dreijähriger sein Wachstum einzustellen?