Biografie
Einführung
Jakob van Hoddis –
wer diesen Namen kennt, verbindet ihn fast immer mit einem Gedicht. »Weltende«: Diese acht Zeilen elektrisierten 1911 die Caféhausliteraten in Berlin, beschrieben die Stimmung einer ganzen Generation. Jakob van Hoddis hatte in diesem Gedicht der Ahnung vom bevorstehenden Zusammenbruch jeglicher Ordnung eine Sprache gegeben. Sein eigenes Lebensschicksal fasste er 1911 in eine einzige Gedichtzeile: »All meine Pfade rangen mit der Nacht.« Hans Davidsohn, der sich später Jakob van Hoddis nannte, kam als Sohn einer jüdischen Bürgerfamilie 1887 in Berlin zur Welt. Nach einer kurzen Phase der Rebellion und des Erfolges als junger Dichter durchlitt er ab 1912 schwere, seelische Krisen und fiel zu Beginn des 1.Weltkrieges in »geistige Umnachtung«. Nach 25 Jahren als Pflegling verschiedener Privatleute und als Patient psychiatrischer Kliniken wurde er 1942, gemeinsam mit hunderten von Patienten und dem Pflegepersonal der Israelitischen Heil- und Pflegeanstalten in Bendorf-Sayn, von den Nationalsozialisten verschleppt und ermordet.
Berliner Kindheit um 1900
Eine sogenannte gute jüdische Familie
Die Mutter, Doris Davidsohn, geborene Kempner (1858-1934) stammte aus Schlesien. Das »Stammhaus« der Familie war damals das Rittergut Droschkau, wo die Großeltern und auch die unverheiratete Tante, die Dichterin Friederike Kempner lebten. Später zog die Familie Kempner nach Berlin. Doris Davidsohn schildert ihre Eltern als weltoffen, aber der jüdischen Tradition verpflichtet, bildungsbürgerlich orientiert und politisch liberal gesinnt. Sie selbst sympatisierte mit sozialistischen Ideen und machte eine Ausbildung als Lehrerin. 1885 heiratete sie den 16 Jahre älteren Arzt Hermann Davidsohn. Aus der Ehe gingen zwischen 1887 und 1894 fünf Kinder hervor, Hans war der älteste. Der Vater, Hermann Davidsohn (1842-1911), stammte aus dem Städtchen Konitz (heute polnisch: Chojnice) bei Bromberg (Bydgoszsz),studierte Medizin in Berlin, machte 1870/71 als freiwilliger Arzt den deutsch-französischen Krieg mit, arbeitete dann als Leiter einer Poliklinik zur medizinischen Versorgung Mittelloser. 1885 heiratete er Doris Kempner. Er praktizierte in der gemeinsamen Wohnung in Friedrichshain zunächst als »praktischer Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer«. Ab 1886 spezialisierte er sich zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt. 1911 starb Hermann Davidsohn und hinterließ seiner Witwe zunächst noch ein eigenes Einkommen durch ein Mietshaus, das aber Anfang der 20er Jahre verkauft werden musste. Seitdem praktisch mittellos, lebte Doris Davidsohn abwechselnd im Haushalt ihrer beiden Töchter in Nürnberg und Berlin. Im Herbst 1933 emigrierte sie gemeinsam mit ihren Töchtern und deren Familien nach Palästina, wo sie am 2. Januar 1934 starb.
Literatur zwischen Caféhaus und Irrenanstalt
Das Neopathetische Cabaret
Das »Neopathetische Cabaret« war für Jakob van Hoddis und seine Freunde aus dem »Neuen Club« das erste Forum, in dem sie ihre Gedichte, Prosatexte und Ideen vorstellten, oft lange, bevor ihre Werke gedruckt wurden. Neun Abende fanden zwischen Juni 1910 und April 1912 statt. Anfangs noch fast private Versammlungen in Ateliers und Hinterzimmern von Cafés, entwickelten sich diese Abende bald zu kulturellen Ereignissen mit mehreren Hundert Zuschauern, die auch von der Berliner Tagespresse wahrgenommen wurden.
Die Welt als Variete
Anfang des 20. Jahrhunderts ist die Welt kleiner geworden. Eisenbahn, Automobil, Telefon und Telegramm haben Kommunikation und Verkehr beschleunigt. In den 300 Kientopps in Berlin sind jeden Abend neue Bilder aus aller Welt zu sehen – Kuriositäten wie Katastrophen. Das Kino findet oft im Varieté statt und gleicht selbst einem Nummernprogramm. Hiervon zeugt der »Varietézyklus« von Jakob van Hoddis, der wiederum eins der ersten Gedichte über das Kino enthält: »Der Kinematograph«.
Gewaltsam in Irrenhaus
Am 31.10.1912 wird Jakob van Hoddis anlässlich eines Besuches bei seiner Tante Laura Henschel in Berlin per Zwang in die Privatheilanstalt Waldhaus Nikolassee gebracht. Kurz zuvor noch hatte er mehrere Wochen freiwillig im »Kurhaus Wolbeck« verlebt. »Gewaltsam ins Irrenhaus« war die, durch Franz Pfemferts »Aktion« geprägte Schlagzeile, unter der diese Internierung diskutiert wurde – einer der ersten Fälle einer öffentlichen Debatte über eine Einweisung in die Psychiatrie.
Hoddis wird publik
In den Zeitschriften »Der Demokrat«, »Der Sturm« und »Die Aktion« wurden zu Anfang des Jahres 1911 Gedichte von Jakob van Hoddis zum ersten Mal gedruckt. Bis 1917 waren es vor allem diese und weitere Zeitschriften – etwa die »Revolution« und »Die Neue Kunst« in München, das »Cabaret Voltaire« in Zürich – die van Hoddis und eine ganze Generation neuer Lyriker und bildender Künstler bekannt machten.
Fluchtpunkt München
München war für die Mitglieder der Berliner Bohème und besonders für Jakob van Hoddis in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg zweite Heimat und kultureller Gegenpol. In Kathi Kobus‘ Künstlerkneipe Simplicissismus traf sich zeitweise dieselbe Gesellschaft, die wenige Tage zuvor noch im »Café Größenwahn« in Berlin anzutreffen war. Doch die Münchner Szene war mehr durch die karnevaleske Buntheit der bildende Künste geprägt als die Berliner Bohème, in der die scharfe, intellektuelle Debatte gepflegt wurde. Nach München zogen ihn in den Jahren 1911 bis 1914 aber vor allem immer wieder die beiden geliebten Frauen – die Diseuse und Schriftstellerin Emmy Hennings und die Puppenkünstlerin Lotte Pritzel. Mit Emmy Hennings fand van Hoddis in München auch Zugang zum Katholizismus, der ihn zeitweise stark faszinierte.
Stille Jahre in Thüringen
Mit Beginn des 1. Weltkrieges verliert Jakob van Hoddis den Kontakt zu seinen alten Freunden. Im Winter 1914/1915 irrlichtert er noch durch München, dann wird er von seiner Familie nach Thüringen gebracht. Dort führt er ein stilles, zurückgezogenes Leben. Der Dichter Jakob van Hoddis wird zum selben Zeitpunkt wiederentdeckt: Sein Gedichtband »Weltende« erscheint 1918 im Verlag der Aktion. 1920 bringt Kurt Pinthus im Rowohlt Verlag die berühmte Anthologie »Menschheitsdämmerung« heraus, die fünf Hoddis-Gedichte enthält und mit Weltende eröffnet wird.
Die Akte Hans Davidsohn
Am 22. November 1926 verliert Jakob van Hoddis seine bürgerlichen Rechte. Auf Antrag seiner Mutter wird er vom Amtsgericht Tübingen entmündigt. Im Sommer 1927 wird Jakob van Hoddis, nach Konflikten mit Nachbarn, von der Polizei in die Tübinger Universitätsklinik eingeliefert.
Nach drei Wochen Aufenthalt wird er von dort mit der Diagnose »schizophrener Endzustand« ins Christophsbad Göppingen verlegt, wo er bis 1933 bleibt. Die Krankenakten schildern ihn als oftmals heiter gestimmten Patienten, der viel rauchte und Schach spielte, zeitweise aber auch Gedichte schrieb, die aber nicht bewahrt wurden.
Emigration der Familie Davidsohn
Die Schwestern Hans Davidsohns flohen 1933 mit ihren Familien und der betagten Mutter aus Deutschland nach Palästina, wo ihr Bruder Ernst schon seit den Zwanziger Jahren lebte. Doris Davidsohn starb, entkräftet und deprimiert, am 2. Januar 1934 in Tel Aviv. Ihre Nachkommen – Nichten und Neffen des Jakob van Hoddis sowie nachfolgende Generationen – leben heute in Israel und den USA: Dass ihr Onkel in Deutschland heute als bedeutender und wegweisender Dichter gilt, erfuhren sie erst 1999.
Letzte Zuflucht in Sayn
Die Israelitischen Heil- und Pflegeanstalten in Bendorf-Sayn wurden in der Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet, um jüdischen Nervenkranken eine Umgebung zu bieten, in der sie mit ihrer Religion leben konnten und vor antisemitischen Angriffen durch Mitpatienten und Personal sicher waren. Als die Schwestern und die Mutter Davidsohn 1933 nach Palästina emigrierten, brachten sie Jakob van Hoddis hier unter. Die Israelitischen Heilanstalten entwickelten sich in den Jahren bis 1942 zunehmend zu einem Sammelpunkt für jüdische Psychiatriepatienten aus dem ganzen Deutschen Reich. Ab 1938 durften nur noch jüdische Mitarbeiter beschäftigt werden. Trotz aller äusserer Bedrohung und Verfolgung, boten die Anstalten bis zu ihrer Auflösung im Jahre 1942 nach innen einen Schutzraum vor rassistischen Angriffen und waren eine Enklave der Humanität für ihre Patienten.
Deportation und Ermordung
In der Zeit von März bis November 1942 wurden alle Patienten und das Personal der Israelitischen Heil- und Pflegeanstalten, insgesamt über 500 Menschen, aus Bendorf Sayn deportiert. Nur einige wenige von ihnen überlebten den 2. Weltkrieg. Jakob van Hoddis wurde am 30. April 1942 über Koblenz-Lützel nach Krasnystaw bei Lublin verschleppt. Nach kurzem Aufenthalt in einem Getto wurde er, wahrscheinlich im Mai 1942, im Vernichtungslager Sobibor ermordet.